- Jungsteinzeit: Jericho - Älteste Stadt der Welt?
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Unter den Posaunen Josuas, so steht es im Alten Testament, fiel die kanaanäische Stadt Jericho, das Tor zum »Gelobten Land«. Überzeugt davon, dass Jericho eine der ältesten Siedlungen überhaupt sei, begannen Archäologen schon 1867 mit den Ausgrabungen. Aber erst Kathleen Kenyon grub 1952-61 etwa ein Achtel der Siedlung aus. Die englische Wissenschaftlerin, die später wegen ihrer Verdienste um die Archäologie Palästinas geadelt wurde, erbrachte aber auch den Aufsehen erregenden Beweis: Jericho ist die älteste Stadt der Welt.Etwa 7 km westlich des Jordan und 1,5 km nordwestlich des heutigen Jericho liegt bei einer Süßwasserquelle (Ain es-Sultan oder Elisaquelle), die den Reichtum dieser Oase inmitten einer Wüstenlandschaft begründet, der circa 20 m hohe Tell es-Sultan. Die Anlage umfasst etwa 3 Hektar und baut sich aus vielen übereinander liegenden Siedlungsschichten auf, die bis in das späte 9. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Von dieser Zeit an kann die kulturelle Entwicklung fast kontinuierlich verfolgt werden. Besonders die ältesten Perioden Jerichos sind von weit reichender Bedeutung, denn sie belegen den revolutionären Prozess der Sesshaftwerdung in der Jungsteinzeit oder - fachsprachlich - im Neolithikum. Die älteste Siedlung, die dem Protoneolithikum oder der Mittelsteinzeit zugerechnet wird, war noch unbefestigt. Aber schon in der darauf folgenden Anlage fand sich eine imponierende Befestigungsmauer (1,75 m breit, streckenweise noch über 3 m hoch erhalten), die aus übereinander geschichteten Steinen errichtet war. Man schätzt die einstige Höhe dieser mehrfach erneuerten oder ausgebesserten Mauer auf circa 5-7 m. Vor ihr lag ein 8 m breiter, 2 m tiefer Graben, der zum Teil in den gewachsenen Fels eingearbeitet ist. Innerhalb der Umfassungsmauer, aber mit ihr unmittelbar verbunden, steht ein heute noch vorzüglich erhaltener runder Turm in Kegelstumpfform. Er ist aus Trockenmauerwerk, also ohne Mörtel, errichtet. Im Innern des noch 8 m hohen Turmes (von 9 m Durchmesser) führt eine Treppe von einem verschwundenen Dach aus mit 20 Stufen nach oben. Der runde Turm wurde später als Begräbnisplatz genutzt. Die Erbauer dieser ersten Befestigungsanlage kannten noch keine Keramik, weshalb diese Schicht als Präkeramisches Neolithikum A bezeichnet wird.Die Behausungen der frühen Zeit waren bienenkorbartige, lehmverputzte und aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtete Rundbauten mit einem Durchmesser von 4-6 m. Sie besaßen einen vorgelegten Eingang, von dem Stufen ins Hausinnere hinabführten. Unter den Fußböden wurden in 1 m tiefen Gruben die Toten in Hockerstellung bestattet. Mehrfach fand man in Schächten unter den Häusern Bestattungen, bei denen einigen Skeletten der Kopf fehlte. Andererseits lagen - meist in Gruppen angeordnet - abgetrennte Schädel ohne zugehörige Unterkiefer in den Häusern, beispielsweise ist eine Gruppe in einem Kreis mit dem Blick zur Mitte niedergelegt. Bei einer Gruppe von Kinderschädeln waren die anschließenden Halswirbel noch vorhanden.Auf die Phase des Präkeramischen Neolithikums A folgte zunächst ein Wüstliegen der Siedlung. Die Folgesiedlung unterscheidet sich in der Bauweise der Häuser erheblich von der ersten, sodass die Forschung den Zuzug einer neuen Bevölkerungsgruppe annimmt. Bei den Häusern handelt es sich jetzt um Rechteckbauten, die sich um einen Innenhof gruppieren. Ein recht großes Gebäude weist halbrunde Nischen auf und enthielt einen Behälter mit Asche; es wird als Heiligtum gedeutet. Die Fußböden der Häuser sind aus Erde gestampft und waren mit gemusterten Binsenmatten ausgelegt, die Wände mit Gips fein geglättet und rot oder gelb ohne weitere Muster bemalt. Die zugehörige Befestigungsmauer ist jedoch weniger sorgfältig als die Vorgängerin gebaut. In dieser Siedlung fanden sich ebenfalls Menschenschädel, die jetzt zumeist mit einer rötlich gefärbten Gipsmasse nachgebildet waren. In die Augenhöhlen waren Muscheln gesteckt. In den letzten Jahrzehnten fanden sich in Israel und Jordanien weitere gipsmodellierte und rot, grün oder schwarz bemalte Menschenschädel sowie Masken aus Stein. Nimmt man noch weitere Befunde aus Anatolien hinzu (Nevali Çori, Çayönü), wo ebenfalls gesondert niedergelegte Schädel gefunden wurden, und wagt man einen Vergleich mit den steinernen »fischkopfähnlichen« Kopffiguren von Lepenski Vir nahe dem Eisernen Tor in Serbien, so vergrößert sich die Fundmenge erheblich. Auch in Mitteleuropa, zum Beispiel in der Ofnet-Höhle im Nördlinger Ries, fand man Nester von zahlreichen Schädeln, an denen teilweise noch die Halswirbel ansaßen.Man muss sich vorstellen, dass in Jericho die abgetrennten Köpfe auf dem Fußboden aufgestellt wurden, während man die Körper der Toten unter dem Haus beisetzte. Insgesamt fand man 85 solcher Schädelbestattungen. Die gipsmodellierten Schädel, die oft als erste Versuche einer Porträtkunst bezeichnet werden, waren wohl die stets sichtbaren und anwesenden Teile der verehrten Ahnen. Während der Grabungskampagne 1930-36 fand man in Jericho drei fast lebensgroße, von einem Geflecht aus Schilfrohr stabilisierte Tonfiguren. Leider konnte nur ein Kopf konserviert werden. Vergleichbare, fast 1 m hohe Figuren fanden sich auch in den frühjungsteinzeitlichen Siedlungen Ain Ghasal (Jordanien) und Tell Ramad (Syrien). Die Figuren, denen der Kopf fehlt, dienten vielleicht als Ständer für die Schädel der Ahnen.In den beiden präkeramischen Besiedlungsphasen - daher die englische Bezeichnung »Prepottery-Neolithic« (PPN A und B) - entwickelten sich als neue Wirtschaftsweisen allmählich Ackerbau und Viehzucht. In der älteren Phase wurden schon Emmer und Gerste angebaut, auf jeden Fall wurden Getreidemühlen gefunden, die aber schon im Mesolithikum, im Natufien, vorkommen. In der jüngeren präkeramischen Phase kommen Linsen und Feigen sowie als frühestes Haustier die Ziege hinzu. Noch immer ungeklärt ist, warum sich bereits in dieser Frühphase die Bevölkerung in einer solchen Dichte innerhalb einer großen Siedlung zusammengeschlossen hat und sich so stark schützte. Vielleicht begünstigte die oasenartige Lage diese Ballung von schätzungsweise 1000 bis 2000 Personen, die zu dieser beachtlichen Gemeinschaftsleistung fähig waren. Turm, Mauer und eine für damalige Zeiten dichte Innenbesiedlung gelten als »städtische« Grundzüge. Die Forschungen der letzten Jahre haben ergeben, dass diese Siedlung nach wie vor ein Einzelfall geblieben ist, was die Monumentalität der Schutzeinrichtungen betrifft.Prof. Dr. Albrecht Jockenhövel
Universal-Lexikon. 2012.